Wie soll der Mensch sich bilden?
Bildung dient immer mehr den Zwecken der Ökonomie – wollen wir das?
Ein Aufruf zur Eroberung unserer Lernräume
von Clara Steinkellner
Die Gefahr der Vereinnahmung unserer Lebenswelt durch ökonomische Profitinteressen ist allgegenwärtig. Wer kennt sie nicht, die Momente, in denen leise Zweifel auftauchen: Sind wir für unser Wirtschaftssystem da? Sollte es nicht umgekehrt sein? Auch in Bezug auf unsere Bildungsräume ist diese Frage virulent. Dass kreative Bildungsprozesse eine Gesellschaft wandlungsfähiger und auch wirtschaftlich leistungsfähiger machen, dass initiativ-fähige und eigenständige Individuen die wichtigsten Entwicklungskräfte einer Gesellschaft sind, das ist in den letzten Jahren in den höchsten Führungsetagen angekommen. Da wurde eingesehen, dass Bildung nicht an der Hochschule, sondern im Kleinkindalter beginnt, da wurden »Schlüsselkompetenzen« ausgearbeitet, die auf Eigeninitiative, künstlerische Ausdrucksfähigkeit und »Lernen lernen« genauso viel Wert legen wie auf Fremdsprachen- und Computerkenntnisse. Soweit, so gut – dennoch bleibt ein beunruhigendes Gefühl zurück, denn alle Persönlichkeitsbildung ist ja irgendwie doch keine echte Persönlichkeitsbildung, wenn sie von ökonomischen Zwecken instrumentalisiert wird. Bildung als Mittel zum Zweck – oder »zweckfreie« Bildung, die ihren Wert, ihren Zweck in sich, in der individuellen Fähigkeitsentwicklung hat?
Wilhelm von Humboldt, dessen Name häufig im Zusammenhang mit einem umfassenden Bildungsideal genannt wird, sagte selbst zum Thema »Zweck«: »Der wahre Zweck des Menschen – nicht der, welchen die wechselnde Neigung, sondern welchen die ewig unveränderliche Vernunft ihm vorschreibt – ist die höchste und proportionierlichste Bildung seiner Kräfte zu einem Ganzen.« Und wie soll der Mensch sich bilden? Humboldt stellt fest: »Zu dieser Bildung ist Freiheit die erste und unerlässliche Bedingung.« Freiheit also, nicht Erfüllung eines Programms mit vorbestimmtem Zweck, ist die Voraussetzung für einen Bildungsprozess. Wohin der Weg führen soll, muss sich erst aus der konkreten Situation ergeben können, vorbestimmte Ergebnisse hemmen Forschergeist und Kreativität. Aber – hat jeder Mensch auch genügend Anregung, genügend offene Fragen, damit sich überhaupt ein entwicklungsfähiger Weg eröffnet? Dazu Humboldt: »Allein außer der Freiheit erfordert die Entwickelung der menschlichen Kräfte noch etwas anderes, obgleich mit der Freiheit eng Verbundenes: Mannigfaltigkeit der Situationen. Auch der freieste und unabhängigste Mensch, in einförmige Lagen versetzt, bildet sich minder aus.« Freiheit und Mannigfaltigkeit der Situationen, zwei Schlüsselbegriffe, die sich in unendlich vielen Beispielen wiederfinden lassen. Wann habe ich selbst etwas Neues gelernt? Das Gefühl gehabt, einen Schritt weitergekommen zu sein? Eigentlich immer dann, wenn das Interesse für die Sache größer war als die Angst, etwas nicht zu verstehen, wenn der Umgang mit dem »Stück Welt«, dass ich erkunden, entdecken, verstehen wollte, ganz direkt und frei möglich war, ohne verzerrendes Element dazwischen oder lähmenden Druck von oben. Und es war immer wieder die Erfahrung von Fremdem, die Konfrontation mit neuen Situationen, die mich aufhorchen und neue Fragen stellen ließ: auf Reisen oder auf Spaziergängen in anderen Stadtvierteln, durch Gespräche mit anderen, durch lesende Begegnung mit anderen Gedanken. Vieles hätte ich ohne die Begegnung mit der Natur, mit Kunst, mit verschiedenen Persönlichkeiten nie erlebt, nie gedacht, nie verstanden – jeder Bildungsprozess hat auch eine Dimension des Sich-Verbindens mit der Welt. Durch die Mannigfaltigkeit der Situationen rund um mich herum, durch Schönes und Erschreckendes, Stille und Lärm, Sommer und Winter, konkrete Arbeitsprozesse und abstrakte Gedanken kann ich eigene Einseitigkeiten erkennen und überwinden. Oft kommen neue Wahrnehmungen auf mich zu, die begrifflich erfasst werden wollen, dann lerne ich wieder neue Begriffe kennen, zu denen sich nach und nach eigene Wahrnehmungen finden – gelingt das, und dazu ist wiederum Freiheit nötig, wird mein Weltbild wieder ein Stück differenzierter, mein Selbstverständnis ein Stück reicher.
In Kitas und Schulen sitzt die Kundschaft von Morgen
Die Diskrepanz zwischen dem hier entwickelten Bildungsbegriff und dem, was wir alle in den verschiedenen Bildungsinstitutionen erlebt haben, ist nicht zu übersehen. Im Jahr 1991 hat Johannes Heimrath in einer »Petition für Freiheit und Selbstbestimmung im Bildungswesen« die Doppelmoral unserer Schulen so beschrieben: »Entgegen den Forderungen auf dem Papier wird die Selbstbestimmtheit der Kinder und die Freiheit der Eltern so wenig geachtet, dass die Entfaltung grundlegender Bedürfnisse und Fähigkeiten verkümmert. Die Wirklichkeit der Schule, so wurde mir leider klar, ist in der Regel nicht der Humanismus, dem sie doch verpflichtet sein will, sondern das Einüben jener inhumanen Eigenschaften, die unsere ›Ellenbogengesellschaft‹ kennzeichnen. In unserer pluralistischen Gesellschaft geht es nicht länger an, dass die Bildung der jungen Menschen zu mündigen, selbstverantwortlichen und sozialen Bürgerinnen und Bürgern ausschließlich in einer zentralistisch und monopolistisch gestalteten und mit Zwang bewehrten Art und Weise vermittelt wird.« Zur monopolistischen und zentralistischen Gestaltung der Bildungsinstitutionen ist in den letzten Jahren ein weiteres »Zwangselement« dazugekommen: Der ökonomische Zweck. Seit der Europäische Rat im Jahr 2000 das Ziel formuliert hat, Europa zum wettbewerbsfähigsten und dynamischsten wissensbasierten Wirtschaftsraum der Welt zu machen, breitet sich schleichend eine Denkart aus, die nicht nur den universitären Bereich einer bloßen Kosten-Nutzen-Rechnung unterwirft, sondern selbst die frühkindliche Pädagogik nach Kriterien wirtschaftlicher Effizienz gestalten möchte. Studierende werden zu »Kunden«, Kinder und Eltern zu Empfängern von »Serviceleistungen«, Bildung ist messbar und damit zur Ware geworden.
Gleichzeitig ist das Interesse der Unternehmen am Bildungssektor erwacht. Die ARD brachte kürzlich einen kritischen Bericht zum Thema »Bildungs-Sponsoring«: Über die Hintertür der Bereitstellung von »pädagogisch hochwertigen« Unterrichtsmaterialien gelangen Werbebotschaften in den Unterrichtsalltag. Die Unternehmen sind sich der einmaligen sozialen Situation in Schulen und Kitas sehr bewusst: Hier ist die künftige Kundschaft versammelt. Wie Kinder am besten an verschiedene Kulturtechniken herangeführt werden können, welche gesellschaftlichen Fragen mit Jugendlichen besprochen werden sollen etc., das also wird neuerdings in den Marketing-Büros der großen Wirtschaftskonzerne besprochen. Ein weltbekannter Spielzeughersteller beispielsweise beliefert deutsche Kitas nicht nur mit Spielwaren, sondern auch mit eigens entwickelten Bilderbüchern zur Leseförderung, die Seiten gefüllt mit bunten Abbildungen der neuesten Spielzeug-Kollektion. Eine regionale Bank entwirft Lernmappen zum Thema »Geld« und möchte bei den Verständnisfragen am Ende auch den Namen der unternehmenseigenen Kinderzeitschrift wissen. »Mit gemeinnütziger Bildungsförderung hat das nichts zu tun!« resümiert die ARD den Beitrag.
Wie entsteht eine lebendige Bildungslandschaft?
Für Ivan Illich beispielsweise ist ganzheitliche Bildung nur jenseits der Institution der staatlichen Pflichtschule denkbar. Als er 1971 seinen Klassiker »Entschulung der Gesellschaft« veröffentlichte, da hätte noch kein Unternehmen Schulen mit fragwürdigen Lehrmaterialien überschüttet, und dennoch sah Illich im verordneten Schulunterricht mit seiner spezifischen sozialen Struktur die Erziehung zum passiven Konsumenten schlechthin. Er hielt die Dozierung von aus dem Zusammenhang gerissenem, fertig verpacktem Wissen für die Hauptstütze unserer problematischen Wirtschaftordnung; deswegen wollte er die Bildung aus den Institutionen und deren »heimlichem Lehrplan« herausholen. Er sprach stattdessen von frei organisierten Bildungsnetzwerken, in denen keine Diplome, sondern im Leben erprobte Fähigkeiten maßgebend sind und alle Zusammenkünfte von den jeweils Beteiligten selbst gestaltet und verantwortet werden. Illich ging es um eine Befreiung der Individualität: Kreative Mitgestaltung in Schule und Gesellschaft, statt nur konsumieren, lautete die Devise. Er wollte keine konservierte Bildung für festgelegte gesellschaftliche Rollen.
Der Aufbruch der »globalen Zivilgesellschaft«, von dem in Hinblick auf die vielen unabhängigen Protest- und Alternativ-Bewegungen der letzten Jahre die Rede ist, hängt für mich mit der Überwindung ebendieser Rollen zusammen: Wer sich in den zahlreichen zivilgesellschaftlichen Netzwerken organisiert, ist in diesem oder jenem beruflichen Feld tätig, hat diese oder jene Staatsangehörigkeit und damit spezifische Rechte und Pflichten; aber sie oder er geht in diesen Identitäten nicht gänzlich auf, sondern sucht von einer übergeordneten Warte aus, die oft zugleich als eigentlicher Kern der Persönlichkeit erlebt wird, nach zukunftsfähiger Entwicklung.
Bildung nach dem Open-Space-Prinzip
Wagen wir einmal zu träumen, dass alle unsere Bildungsprozesse, die Kinderbetreuung, die Schulbildung, die Erwachsenenbildung, die Universität etc. spontan und »von unten«, in selbstbestimmter Gemeinsamkeit organisiert werden! Bildung nach dem Open-Space-Prinzip, nichts wird gemacht, weil es verordnet, sondern alles, weil es gewollt und vereinbart wurde.
Und die Kinder sollen, so notierte schon Novalis in seiner Aphorismen-Sammlung, nicht durch »direkte Erziehung«, sondern durch »allmähliches Teilnehmenlassen an den Beschäftigungen der Erwachsenen« lernen. Hier liegen viele Bildungsmöglichkeiten brach: Begegnungen, Exkursionen, Praktika sind nicht per se mit einer Verwirtschaftlichung des Bildungsbereichs gleichzusetzen, sondern unverzichtbarer Teil einer ganzheitlichen Menschenbildung. Seit ich selbst einmal drei Wochen lang jeden Morgen in einen großen Hühnerstall (glücklicherweise mit freiem Zugang zu einem noch größeren Garten) gehen durfte, um hundert Eier zu holen, zu wiegen, nach Größe zu sortieren und zu verpacken, nehme ich alle Eierkartons mit anderen Gefühlen aus dem Supermarktregal. Seit ich gehört und gesehen habe, unter welch ohrenbetäubendem Lärm die Strickmaschinen in Bukarest Tag und Nacht laufen und die Arbeiterinnen jeden einzelnen Strumpf über ein Plastikbein ziehen und von allen Seiten kontrollieren, bevor er durch einen Luftdruckschlauch zur Verpackungsstation weitergepustet wird, weiß ich, wem ich zu danken habe, wenn ich eine neue Schachtel Nylonsocken öffne.
Die Pädagogik kann sich also nicht ganz aus dem Wirtschaftsleben zurückziehen, sie muss in Beziehung treten, mit der Natur, mit der Kunst, mit der sozialen Mitwelt und auch mit konkreten Wirtschaftsprozessen. Stellt sich die Pädagogik auf zivilgesellschaftlichen Boden, so kann sie in dem Maß, in dem wir alle Teil dieser Bewegung werden, eine autonome Verhandlungsposition erringen, um nicht mehr zum Befehlsempfänger staatlich sanktionierter Vorgaben degradiert oder von wirtschaftlicher Zweckbindung instrumentalisiert zu werden.
Dann können neue Visionen entstehen: Statt sich von Werbeartikeln überhäufen zu lassen, warum nicht künstlerische und sozialpädagogische Prozesse in die Unternehmen tragen? In pädagogischen Sozialräumen wird das Sich-Begegnen und Sich-Verstehen gelebt und geübt. Warum sollten die Unternehmen ihre Türen nicht auch solchen Prozessen öffnen, ihre »Innenwelt« von Zeit zu Zeit zur pädagogischen Erfahrungswelt werden lassen und dabei selbst gewinnen? Und warum sollten Unternehmen, die es wagen, sich der knallharten Marktlogik zu widersetzen, keine Kundschaft finden? Die Humankapital-Produktionsstätten Europas verlieren mit der Menschenbildung auch die globale Solidarität. Als Weltwirtschaftsgemeinschaft sind wir längst arbeitsteilig global verbunden, doch es wird immer noch in Kategorien nationaler Standortvorteile gedacht. Eignen wir uns Kompetenzen an, um nationale Vorteile auszubauen, oder bilden wir uns zu Weltbürgerinnen und Weltbürgern aus, die gemeinsam mit Verbündeten in Nord und Süd an einer sozial gerechteren und ökologisch nachhaltigeren Weltgesellschaft bauen? Eine Antwort auf die heutigen Ökonomisierungstendenzen kann es also sein, transnationale zivilgesellschaftliche Netzwerke aufzubauen, die mit einer Befreiung, Ent-Institutionalisierung und »Ver-Zivilgesellschaftlichung« der Bildung vor Ort arbeiten und ebenso an einer demokratischen Gesetzgebung und an nachhaltigen Wirtschaftbeziehungen, die eine befreite Bildung rechtlich möglich und finanzierbar machen.
Clara Steinkellner (26), Diplomstudium Internationale Entwicklung, Rumänisch und Germanistik in Wien und Berlin. Mitbegründerin der Freien Bildungsstiftung (www.freiebildungsstiftung.de), derzeit Praktikantin beim European Forum für Freedom in Education (www.effe-eu.org) in Brüssel.
Freie Gedanken über freie Bildung:
Wilhelm von Humboldt: Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen. Reclam, 2002 • Ivan Illich: Entschulung der Gesellschaft. Eine Streitschrift. C.H. Beck Verlag, 2003 • Martin Z. Schröder (Hrsg.): Kindheit – ein Begriff wird mündig. Drachen Verlag, 1991
Der Artikel ist erschien in OYA 9/2011
oya online.de