Diagnose: Dramatischer Naturmangel

Der Text ist ein Auszug aus dem Buch von Richard Louv: Das letzte Kind im Wald? Geben wir unseren Kindern die Natur zurück!,  Beltz Verlag (360 S., E 19,95).

Richard Louv ist Journalist und einer der bekanntesten Umweltaktivisten in den USA. Er ist Chairman des Children & Nature Network (www.cnaturenet.org).

Kindheit fern von Feld, Wald und Wiese. Kinder verbringen heute den größten Teil ihrer Zeit vor Bildschirmen und in geschlossenen Räumen. Immer seltener kommen sie mit realer Natur in Berührung. Dieses wachsende Naturdefizit hat verheerende Folgen für die psychische und körperliche Gesundheit einer ganzen Generation. Forscher warnen bereits vor einer „Naturdefizitstörung“.

Unsere Gesellschaft bringt jungen Menschen bei, unmittelbare Naturerfahrungen zu meiden. Unsere Institutionen, unsere urbanen Lebensräume und kulturelle Einstellung verbinden Natur mit Gefahr und Untergang. Schulen, Medien und Eltern jagen unseren Kindern buchstäblich Angst vor Wald und Flur ein. In der computerisierten Bildungswelt, in der wir leben, beobachten wir den schleichenden Tod der Naturkunde: Praxis- und erfahrungsbezogenere Fächer wie die Zoologie weichen den theoretischeren (und lukrativeren) Fächern Mikrobiologie und Gentechnik.

Der postmoderne Gedanke, die Wirklichkeit sei nur ein Konstrukt – wir sind, was wir programmieren –, gaukelt uns grenzenlose menschliche Möglichkeiten vor. Doch wenn Kinder und Jugendliche immer weniger Zeit in der freien Natur zubringen, verengt sich ihr sinnlicher Wahrnehmungshorizont, körperlich und seelisch, und das mindert den Reichtum der menschlichen Erfahrung. Genau jetzt, da die Verbindung zwischen der jungen Generation und der natürlichen Welt abzureißen droht, beweisen Forschungsergebnisse zunehmend einen Zusammenhang zwischen unserer mentalen, körperlichen und spirituellen Gesundheit und direkten positiven Naturererlebnissen. Solche Studien zeigen, dass der durchdachte Einsatz von Naturerfahrungen sogar eine besonders effektive Therapieform für Jugendliche sein kann, die etwa am Aufmerksamkeitsdefizit- und Hyperaktivitätssyndrom (ADHS) und anderen psychischen Störungen leiden. Ebenso sehr wie Kinder gute Ernährung und ausreichend Schlaf brauchen, benötigen sie vermutlich Kontakt mit der Natur.

Für Kinder hat die Natur viele Gestalten. Ein neugeborenes Kalb; ein Haustier, das lebt und stirbt; ein Trampelpfad im Wald; ein Fort inmitten von Brennnesseln; eine feuchte, unheimliche Ecke auf einem unbebauten Grundstück – welche Gestalt die Natur auch annimmt, sie eröffnet jedem Kind eine ältere, größere Welt, die unabhängig von seinen Eltern besteht. Anders als das Fernsehen stiehlt die Natur keine Zeit; sie verlängert und bereichert sie vielmehr. Die Natur wirkt sogar heilend auf Kinder, die in einer destruktiven Familie oder Umwelt leben. Natur regt die kindliche Kreativität an, indem sie Visualisierung und den Einsatz aller Sinne fordert. Natur kann einem Kind auch Angst machen, doch selbst diese Angst dient einem Zweck. In der Natur findet ein Kind Freiheit, Abenteuer und Ungestörtheit: eine Welt fern von den Erwachsenen, einen eigenen Frieden.

Wie die meisten von uns haben auch Wissenschaftler die Beziehung Kind/Natur für selbstverständlich gehalten. Wie konnte etwas so Zeitloses sich in so kurzer Zeit verändern? Und wenn einzelne Forscher diese Fragen stellten, wurden sie als sentimentale Nostalgiker verspottet. Ein Grund dafür ist, dass es keinen kommerziellen Anreiz für solche Fragen gibt. Einer der großen Vorteile unstrukturierter Freizeit in der Natur ist, dass sie nichts kostet, erklärt James Sallis, Leiter des Active Living Research Program in den USA: „Weil das Spielen in der Natur umsonst ist, sind keine größeren kommerziellen Interessen damit verbunden. Wer soll dann aber die Forschung finanzieren? Wenn Kinder draußen Fahrrad fahren oder herumlaufen, verbrennen sie keine fossilen Brennstoffe, sie sind keine werbeträchtige Zuschauermenge, sie bringen niemandem einen finanziellen Vorteil … Der Blick ist immer starr aufs Geld gerichtet.“
Dennoch gibt es einige wissenschaftliche Daten – erhoben seit den späten 1980er Jahren –, die auf einen wachsenden generationsbedingten Bruch mit der Natur hinweisen, in den Vereinigten Staaten und anderswo. Eine britische Studie kam zu dem Ergebnis, dass durchschnittliche Achtjährige eher die Figuren aus dem japanischen Sammelkartenspiel Pokémon kannten als die heimischen Tier- und Pflanzenarten: Sie können mit Pikachu, Metagross und Knuddelluff mehr anfangen als mit Otter, Käfer oder Eiche. Ebenso ist die kindliche Lebensumwelt in Japan, die sich ohnehin in einem kleineren Maßstab abspielt, noch kleiner geworden. Fast zwei Jahrzehnte lang hat der berühmte japanische Fotograf Keiki Haginoya spielende Kinder in Japans Städten abgelichtet. In den letzten Jahren sind die Kinder so schnell aus seinem Sucher verschwunden, dass er dieses Kapitel seiner Fotografenkarriere beenden musste.

Die Niederlande, oft mit einem überdurchschnittlich grünen Bewusstsein assoziiert, sind dennoch ein hochurbanisiertes Land, wo laut einer Umfrage, die die Wissenschaftlerin Jana Verboom-Vasiljev unter Schülern in sieben weiterführenden Schulen durchgeführt hat, die Kinder nur wenig Kontakt zur Natur haben. Es gibt kaum Hinweise darauf, dass die Liebe zur Natur in der Familie vermittelt wird. Naturreservate und Parks, Zoos oder botanische Gärten besuchen weniger als die Hälfte. Die meisten Schüler waren unfähig, eine einzige gefährdete Pflanzenart zu nennen, und kannten nur wenige gefährdete Tiere.

Ein US-amerikanischer Forscher weist darauf hin, dass eine ganze Generation von Kindern nicht nur an die Wohnung und ans Haus gebunden aufwächst, sondern in noch engere Räume eingesperrt wird. Jane Clark, Professorin für Kinesiologie (die Lehre von der menschlichen Bewegung) an der University of Maryland, nennt sie „Containerkinder“ – sie verbringen immer mehr Zeit in Autositzen, Kinderhochstühlen und sogar Babysitzen vor dem Fernseher. Wenn kleine Kinder nach draußen kommen, werden sie meist in Container gesteckt – Kinderwagen – und von ihren joggenden oder spazierenden Eltern geschoben.

Der größte Teil dieser Kindercontainerisierung findet aus Sicherheitsgründen statt. Doch ist damit langfristig die Gesundheit der Kinder gefährdet. In der medizinischen Fachzeitschrift Lancet stellten Forscher der Universität Glasgow eine Studie über die Aktivität von Kleinkindern vor. Sie banden 78 Dreijährigen für eine Woche elektronische Beschleunigungsmesser um die Handgelenke. Sie kamen zu dem Ergebnis, dass die Kinder nur 20 Minuten täglich körperlich aktiv waren.

Natürlich ist die Trennung der Kindheit von der Natur Teil einer größeren Verschiebung – der körperlichen Einschränkung der Kinder in einer sich rasch urbanisierenden Welt, der vor allem die Naturerfahrung zum Opfer fällt. Wir wollen das Phänomen vorläufig Naturdefizitstörung nennen. Ich behaupte keinesfalls, dass es sich bei diesem Begriff um eine anerkannte medizinische Diagnose handelt. Doch wenn ich mit Eltern und Pädagogen über die Naturdefizitstörung spreche, ist die Bedeutung jedem klar. Naturdefizitstörung beschreibt die menschlichen Kosten der Entfremdung von der Natur, darunter: verringerte Sinneserfahrungen, Aufmerksamkeitsprobleme und ein höheres Maß an körperlichen und emotionalen Erkrankungen.

Die Störung lässt sich bei einzelnen Personen, in Familien und ganzen Gemeinden feststellen. Das Naturdefizit kann sogar das menschliche Verhalten in Städten massiv beeinflussen – seit langem vorliegende Studien belegen einen Zusammenhang zwischen der Abwesenheit oder Unerreichbarkeit von Parks und offenem Gelände und einer hohen Kriminalitätsrate, Depressionen und anderen urbanen Krankheiten. Und immer mehr Forscher glauben, dass der Verlust des natürlichen Lebensraums oder die Abkoppelung von der Natur, selbst wenn sie erreichbar bleibt, gewaltige Folgen für die menschliche Gesundheit und die Entwicklung von Kindern hat. Einige Forscher meinen, dass die Qualität der Erfahrung und des Erlebens von Natur unsere Gesundheit sogar auf der Zellebene beeinflusst.

Dass die Aktivität von Kindern in der freien Natur auch mit ihrer körperlichen Gesundheit zu tun hat, ist klar, aber der Zusammenhang ist komplex. Das amerikanische Gesundheitsamt (Center for Disease Control, CDC) berichtet, dass zwischen 1991 und 2000 die Zahl übergewichtiger US-Bürger um über 60 Prozent gestiegen ist. Laut CDC-Daten hat der Anteil übergewichtiger Kinder im Alter zwischen zwei und fünf Jahren in den USA von 1989 bis 1999 um fast 36 Prozent zugenommen. In jener Zeit waren zwei von zehn amerikanischen Kindern klinisch fettleibig – die vierfache Prozentzahl an Kindesfettleibigkeit gegenüber den Erhebungen Ende der 1960er Jahre. Bei diesen Kindern steigt das Risiko, später eine Herzerkrankung zu erleiden. Das Journal of the American Medical Association stellte bei Jugendlichen zwischen acht und achtzehn Jahren einen wachsenden Trend zu überhöhtem Blutdruck fest.

Aufgrund solcher besorgniserregenden Befunde warnen Kinderärzte davor, dass die heutigen Kinder möglicherweise die erste Generation von US-Amerikanern seit dem 1. Weltkrieg sein werden, die in früherem Alter als ihre Eltern stirbt. Die Weltgesundheitsorganisation weist zwar zu Recht darauf hin, dass Kinder in vielen Teilen der Welt an Hunger und Unterversorgung leiden, aber sie verschweigt nicht, dass die sitzende Lebensweise ebenfalls ein globales Gesundheitsproblem darstellt. Körperliche Inaktivität gilt als einer der größten Risikofaktoren bei nichtinfektiösen Krankheiten. Dieser Faktor wird weltweit mit 60 Prozent aller Sterbefälle und 47 Prozent aller Krankheiten in Verbindung gebracht.

Fernsehen und der Konsum von Junkfood tragen ganz offensichtlich zur Fettleibigkeit von Kindern bei. Das CDC stellte fest, dass das Ausmaß, in dem Kinder vor dem Fernseher sitzen, unmittelbar mit ihrem Körperfett korreliert. In den Vereinigten Staaten verbringen Kinder im Alter von sechs bis elf Jahren im Durchschnitt 30 Stunden wöchentlich vor dem Fernseher oder dem Computermonitor.

Mehr körperliche Aktivität würde helfen. Aber was für eine Aktivität und wo? Eltern wird empfohlen, den Fernseher abzuschalten und die Zeit für Videospiele zu limitieren, aber wir hören kaum etwas darüber, was die Kinder mit der gewonnenen Zeit körperlich anstellen sollen. Der übliche Vorschlag lautet „Sportverein“. Aber man bedenke eines: Die epidemische Fettleibigkeit bei Kindern fällt zusammen mit der größten Zunahme des organisierten Kindersports in der Geschichte. Experten für Kinderfettleibigkeit geben heute zu, dass die bisherigen Rezepte offenbar nicht funktionieren. Was fehlt Kindern, das der organisierte Sport ihnen nicht bieten kann?

Seltsamerweise taucht in der Literatur über kindliche Fettsucht das Wort „Natur“ nur selten auf, aber das mag sich ändern. Die körperliche Betätigung und emotionale Erweiterung, die Kinder im unorganisierten Spiel im Freien erleben, ist abwechslungsreicher und weniger zeitgebunden als im organisierten Sport. Spielzeiten – insbesondere wenn es sich um unstrukturiertes, fantasiereiches und exploratives Spiel handelt – werden immer mehr als wesentlicher Bestandteil einer gesunden Kindesentwicklung angesehen. Forschungsergebnisse zum Spiel im Freien vermengen oft unterschiedliche Aktivitäten – wie zum Beispiel Radfahren in der Nachbarschaft – mit Ergebnissen, die sich spezifisch auf Naturerfahrung beziehen. Zusätzliche exakte Kontrollstudien sind nötig, um Korrelation, Ursache und Wirkung auseinanderzuhalten. Wenn man aber neuere Studien zusammen betrachtet, führen sie zu starken Hypothesen.
„Spiel in natürlicher Umgebung hat besondere Vorteile. Zum einen sind Kinder körperlich aktiver, wenn sie sich im Freien aufhalten – ein Segen in einer Zeit, in der sitzender Lebensstil und Übergewicht epidemisch sind“, meint Howard Frumkin, Direktor des National Center for Environmental Health im CDC.

Jüngste Studien weisen eindeutig nach, dass im Freien verbrachte Zeit mit weiteren Gesundheitseffekten verbunden ist, die sich nur bei echtem Naturerleben einstellen. Studien über Vorschulkinder in Norwegen und Schweden zeigen, welche positiven Auswirkungen das Spiel in der freien Natur hat. Die Studien verglichen Vorschulkinder, die jeden Tag auf planierten Spielplätzen spielten, mit Kindern, die die gleiche Zeit in der natürlichen Umgebung von Bäumen, Felsen und unversiegeltem Boden verbrachten. Nach einem Jahr zeigten die Kinder, die in natürlicher Umgebung spielten, größere motorische Fähigkeiten, insbesondere bei Balance und Beweglichkeit.

Aber was ist mit der emotionalen Gesundheit der Kinder? Zwar entwickeln sich Herzerkrankungen und andere negative Auswirkungen körperlicher Inaktivität gewöhnlich erst im Lauf von Jahrzehnten, aber ein anderes Ergebnis der sitzenden Lebensweise lässt sich sofort feststellen: Naturfern lebende Kinder werden immer häufiger depressiv.

Die Zahl der amerikanischen Kinder, denen Antidepressiva verschrieben wurden, habe sich in fünf Jahren annähernd verdoppelt, berichtet eine Studie aus dem Jahre 2003. Der steilste Anstieg war bei Vorschulkindern zu verzeichnen. Die Verschreibungen für Kinder nahmen zu, obwohl Antidepressiva nicht an unter Achtzehnjährige vergeben werden sollten – mit der Ausnahme von Prozac (Fluoxetin), das 2001 für die Behandlung von Kindern zugelassen wurde, nachdem die Verschreibungen für Jugendliche in die Höhe zu schnellen begannen.
2004 kam eine Datenanalyse von Medico Health Solutions, dem größten medizinischen Kosten-Nutzen-Analysten der USA, zu dem Ergebnis, dass es zwischen 2000 und 2003 einen 49-prozentigen Anstieg psychotroper Arzneien gab – Antipsychotika, Benzodiazepine und Antidepressiva. Zum ersten Mal überstieg damit, wenn man die Medikamente gegen Aufmerksamkeitsdefizitstörungen hinzuzählt, die Ausgabe von Psychopharmaka diejenige von Antibiotika und Asthmamedikamenten für Kinder.

Zwar profitieren zahllose Kinder, die an mentalen oder Aufmerksamkeitsstörungen leiden, von Medikamenten, aber die Nutzung der Natur als alternative, zusätzliche oder präventive Therapie wird übersehen. Umgekehrt zeigen neuere Forschungsergebnisse, dass der Bedarf nach diesen Medikamenten sich durch die Naturabstinenz der Kinder noch intensiviert. Obgleich Naturerlebnisse möglicherweise keinen Einfluss auf schwerste Depressionen haben, wissen wir, dass sie manche der Alltagsbedrückungen lindern können, die sonst vielleicht zu kindlichen Depressionen führen. In The Human Relationship with Nature (Die menschliche Beziehung zur Natur) weist Peter Kahn auf die Resultate von über 100 Studien hin, die alle darin übereinstimmen, dass ein Hauptnutzen des Aufenthalts in freier Natur der Stressabbau ist.

An den naturfernsten Orten unserer Welt sehen wir den Siegeszug eines Störungsbildes, das man als kulturellen Autismus bezeichnen könnte. Die Symptome? Tunnelblick und Gefühle der Isolation und Gefangenschaft. Erfahrungen und Erlebnisse, auch solche, die mit einem gewissen körperlichen Risiko verbunden sind, schrumpfen auf die Größe eines Flachbildschirms zusammen. „Ich beobachte heute einen fast religiösen Eifer für die technologische Herangehensweise an jede Facette des Lebens“, sagt der Publizist und Sozialwissenschaftler Daniel Yankelovich. Dieser Glaube, so sagt er, geht über die bloße Liebe zu neumodischen Apparaten hinaus. „Es ist ein Wertesystem, eine Bewusstseinshaltung, die durchaus wahnhafte Züge annehmen kann.“

Edward Reed, außerordentlicher Professor für Psychologie am Franklin and Marshall College, war ein scharfer Kritiker des Mythos vom Informationszeitalter. In seinem Buch The Necessity of Experience (Die Notwendigkeit der Erfahrung) schrieb er: „Es läuft etwas falsch in einer Gesellschaft, die so viel Geld und menschliche Arbeitskraft investiert, um die banalsten Informationsfetzen für jedermann im letzten Winkel der Welt zugänglich zu machen, und so gut wie nichts dafür tut, dass wir die Welt auf eigene Faust erforschen können.“ Weder unsere großen Institutionen noch unsere Populärkultur kümmern sich um „Primärerfahrung“, wie Reed es nennt – das, was wir in Eigenregie als Individuen sehen, fühlen, tasten, hören und riechen können. Nach Reed verlieren wir allmählich „die Fähigkeit, unsere Welt unmittelbar zu erfahren. Wir haben uns heute an einen stark verarmten Begriff von Erfahrung gewöhnt; und ebenso verarmt ist die Erfahrung in unserem Alltagsleben.“

PSYCHOLOGIE HEUTE – 10 / 2011