Spiel mit mir!
Elke Loepthin erschienen in oya 15/2012
Wie gut, dass es Kinder gibt! Ihr fünfjähriger Sohn bringt Elke Loepthien dazu, die Bedeutung des Spielens zu erforschen. Sie entdeckt neue Verbindungen: zu Piraten, Füchsen und einem Leben in Beziehung mit der Welt.
© Foto: Elke Loepthien
»Ich bin ein Jumbojet! Nein, ich bin ein Iiiii Zeeeee Eeeeee, njääääuuuuummm.« Seit mein Sohn Elia fünf wurde, ist er selbst kaum noch hier. Stattdessen ein ganzer Fuhrpark, Dinosaurier und Tiere aller Arten: »Sag nicht Elia zu mir, ich heiße Findus! Kannst du bitte Petterson sein, Mama?«
Oft bin ich davon genervt. Ich habe genug damit zu tun, ich selbst zu sein, und will keinen Kinderhelden verkörpern oder ein Auto, brumm-brumm, durch die Gegend schieben. Wenn schon spielen, dann etwas, das ich in meine tatsächliche Wirklichkeit holen kann.
Für mich bedeutet Rollenspiel ein Zur-Rolle-Werden, wie es der polnische Schauspieltheoretiker Jerzy Grotowski forderte. »Der Schauspieler ist Schöpfer, Modell und Schöpfung in einem«, sagte er. So lernte ich es vor elf Jahren an der Reduta-Schauspielschule Berlin von seiner ehemaligen Assistentin Teresa Nawrot. Grotowskis Ansatz half uns Lernenden, unter Blut, Schweiß und Tränen unser Innerstes nach außen zu kehren und alle Masken fallen zu lassen. In intensiven Körperimprovisationen durchbrachen wir Blockaden und ließen Geschichten aus der Tiefe entstehen. Zwei Stunden dieser Arbeit fühlten sich an wie ein ganzes Leben, mit Liebe und Hass, Mord und Wiedergeburt, Angst, Vergeltung, Euphorie und Ekstase. Das Erleben war echt und immer mein eigenes. Und das Spiel wurde für mich zum Mittel für ein intensiveres Sein.
Spiel und Scham
Oft befällt mich eine anfängliche Beklommenheit, sobald es ans Spielen mit anderen geht. Vor mir spüre ich, wie ein noch unbekannter Mikrokosmos mit seinen eigenen Regeln entsteht. Die Naturgesetze bleiben zwar auch in diesem Raum erhalten, nach wie vor unterliegen wir der Schwerkraft – viel mehr aber nicht. Die sozialen Konventionen fallen weg, und das Ich, das ich vor mir hertrage, wird neu erfunden. Ich weiß zu Beginn des Spiels nicht, wie ich selbst in all dem sein werde. Meine Identität wird sich sprunghaft verändern.
Es ist vor allem die Angst davor, die Verbindung zu den anderen zu verlieren, die mich hemmt, weil ich Scham empfinde – ein Gefühl, im Kern nicht gut genug zu sein. Lasse ich mich dann doch darauf ein, dauert es oft nur zwei Minuten bis zur Befreiung. Leichtigkeit kommt, Heiterkeit. Ich spüre meinen Körper, meine Sinne, fühle mich sogar stärker mit den anderen verbunden als zuvor. Die US-amerikanische Sozialforscherin Brene Brown erklärt: Wenn wir Verbindung wollen, geht es im Grund immer darum, unser eigenes Gefühl von Scham zu umarmen, unsere Hemmungen zu überwinden und uns selbst zu zeigen. Das beängstigende Spüren der eigenen Verletzlichkeit ist die Türschwelle zur Verbundenheit miteinander. Und das Spiel kann die Tür sein.
Böse Spiele
Zufällig kam ein Junge aus Elias Kindergarten mit seiner Mutter bei uns vorbei. Die Kinder spielten miteinander. Am Abend fragte Elia: »Kann er bald wieder kommen? Mit ihm kann man so schön böse spielen.« Mein Mutterinstinkt war empört. Was soll denn »schön böse spielen« bedeuten?
Beim nächsten Besuch hielt ich mich im Hintergrund bereit, um in Sekundenschnelle hinzuspringen, sollte es hier böse zugehen. Aber Stunden um Stunden vergingen, in denen beide Jungs in trautester Einigkeit, fröhlich, heiter und ohne einen einzigen Streit miteinander ein Raumschiff nach dem anderen kaperten, Gefangene fesselten und hinrichten ließen, Räuber schnappten und hinter Gitter brachten, und am Ende wurde sogar noch Pippi Langstrumpf erhängt. – Am Abend habe ich erstmal Redebedarf. Mit mir wollte Elia so etwas noch nie spielen.
Ich bin froh, mit einer Freundin darüber sprechen zu können, die in einer Berliner Praxis für Körpertherapie die Methode »Life Flow« lernt. Hier wird Spielen zur Methode der körperorientierten Prozessarbeit. Es geht darum, die eigenen Muster im selbsterfundenen Spiel so weit zu übertreiben, bis sie sich erschöpfen. Dabei sind sowohl Muster gemeint, mit denen man schon seit Jahren bewusst ringt, als auch jene völlig verdrängten, dunklen Fantasien, die in der Tiefe verborgen schlummern. In einem sicheren therapeutischen Rahmen »böse spielen« soll dabei helfen, sich eigenen zerstörerischen Fantasien zu nähern. Dann würden sie im Alltag nicht mehr als quälende, selbstzerstörerische Stimmen erlebt und nicht mehr unbewusst ausgelebt.
Inzwischen freue ich mich, dass mein Sohn ohne mich (oder sogar trotz meiner Zurückhaltung) herausgefunden hat, wie er mit seinen Schatten tanzen kann. Jetzt kann ich es durch ihn auch neu erlernen. Verzückt strahlt er mich an, wenn ich manchmal ein böser Pirat werde, der tief und heiser spricht und böse Sachen sagt: »Werrrft ihn über Borrrd, den Schurrrken!«
Spielregeln und Liebesspiel
Wenn Elia spielt, scheint er manchmal besessen von einem bestimmten Ausgang zu sein. Er weiß genau, was er will, wenn er etwas baut oder sich einen bestimmten Handlungsablauf ausdenkt. Klappt es nicht, rastet er aus, weint und durchlebt einen Tobsuchtsanfall. Auch Verbissenheit kann ein Teil des Spielens sein, selbst wenn es das Gegenteil von spielerischem Handeln zu sein scheint.
»Wer auf die Gehweg-Ritzen tritt, ist tot.« Zu verkünden, was wichtig ist und was nicht – das definiert nach den Organisationsberatern Steve Zaffron und Dave Logan ein Spiel. Sie sehen das Ausrufen eines Spiels als den grundlegenden Schritt zum Ergreifen von Führung an. Mein Favorit aus Elias Regel-Sammlung ist beim Wettlaufen: »Wer mich überholt, hat verloren.« Für mich geht es beim Spiel weniger um Führung als darum, mich auf eine Aktivität einzulassen und zu sehen, wohin sie mich trägt. Meine Regeln sind, mich dabei meinen Gefühlen hingeben zu dürfen, bewusst zu sein, Zeitlosigkeit zuzulassen, nicht auf die Uhr zu schauen. Oft erlebe ich das beim schöpferischen Arbeiten.
»Mama, können wir Bob, der Baumeister, spielen?« »Nein, ich arbeite gerade.« »Du kannst ja Bob, der Baumeister, sein und arbeiten! Ich bin der Bagger.« Elia liegt im sonnenwarmen Sand hier im Garten vor dem Haus und gräbt mit Hingabe ein Loch. Sand durch die Finger rinnen lassen, aufwühlen und glattstreicheln. Es bringt mir wärmste Glückseligkeit, meinen Sohn so selbstvergessen spielen zu sehen. Meine liebsten Spiele kommen ganz ohne Sprache und ohne feste Handlung aus. Ein Necken und Kitzeln, ein Rollen und Raufen, ein Lachen und Grummeln und vor allem ein aufmerksames Den-anderen-spüren-und-Erfahren, mit allen Sinnen und ganz nah, wertungsfrei und ohne Agenda. Dann fällt es mir ganz leicht, Verletzlichkeit zu zeigen, weil ich mich geschützt und geborgen fühle. Alle schamhaften Gedanken sind still.
Der sonst oft rasende Gedankenmonolog in mir verebbt auch, wenn ich allein draußen und der Erde nah bin und meine Sinne von den Geräuschen, Empfindungen und Gerüchen von Wald, Wesen und Elementen in den Bann gezogen werden. Dann entsteht eine Mischung aus Achtsamkeit und Neugier. Ich entspanne und möchte spielerisch auf die Welt zugehen, sogar, wenn ich allein bin. Es entsteht ein »Liebesspiel« zwischen mir und dem, was mich umgibt: Sand, trockenes Laub, feuchte Erde, kaltes Wasser, Sonnenlicht und die sichtbaren und nicht sichtbaren Bewohner des Waldes.
Spielen bei den Buschleuten
Jon Young, US-amerikanischer Experte für die Beziehung zwischen Mensch und Natur, besucht seit einigen Jahren die Buschleute der Kalahari in Botswana. Ihn interessiert vor allem, wie sie ihre starke Naturverbindung an die jüngeren Generationen weitergeben. Die Buschleute sind genetisch die engsten Nachfahren des ursprünglichen Homo sapiens. So versteht Jon seine Reisen auch als Begegnungen mit der Kultur der eigenen Vorfahren. Als ich ihn am Telefon zur letzten Reise in diesem Frühjahr befrage, erzählt er mir, wie seine Reisegruppe am zweiten Tag eine Art Test durchlaufen musste. Sie mussten Spiele spielen, die es unmöglich machen, dass man dabei denkt. Aus dem Kopf in den Körper und in die Sinne kommen – die Buschleute kennen diesen Schlüssel zu Aufmerksamkeit und Lebendigkeit. Das Besondere an ihren Spielen ist, dass sie für die Erwachsenen gedacht sind. Kinder schauen bei den Spielen der Großen nur zu. Sie üben sich später darin, wenn sie unter sich sind. Es muss eine machtvolle kulturelle Botschaft für die Kleinen sein, wie wichtig die Älteren das Spielen nehmen. Vielleicht besteht ein Zusammenhang zwischen der Ernsthaftigkeit, mit der dem Spaß hier ein Rahmen gegeben und gehalten wird, und der Heiterkeit und dem Humor dieses in seinem Alltag als sehr ausgelassen und fröhlich bekannten Volks.
Bei den Buschleuten und in anderen Kulturen, in denen Jagd eine große Rolle spielt, werden am Abend die Geschichten von den Tieren oder ihren Spuren nicht nur erzählt, sondern ausagiert. Theatralisch werden die Tiere imitiert und Erlebnisse nachgespielt. Die Buschleute sagen selbst: Der Jäger wird zu dem gejagten Tier. In diesem Zustand der Identifikation können sie, auch wenn keinerlei Spuren (oder unüberschaubar viele) sichtbar sind, das Tier dennoch finden. Wenn die Verbindung – die »Seile«, wie die Buschleute es nennen – stark ist, spürt der Jäger, wo sich das Tier gerade aufhält, erzählen sie im Dokumentarfilm »The Great Dance«.
Den Fuchs, der unseren Garten besucht, habe ich in sieben Jahren noch nicht einmal gesehen, obwohl ich es mir sehr wünschte. Ich habe nach seinem Bau gesucht, ihm abends aufgelauert, ihn mit Hühnerknochen bestochen … nie war auch nur eine Schwanzspitze von ihm zu sehen. Jon Young schlug mir vor, den Fuchs nachzuspielen. Elia Feuer und Flamme für die Idee. Wie ein Fuchs laufen, schnuppern, fressen, schauen, räkeln, rollen, tollen. Immer wieder spielen wir zwischendurch Fuchs. Wir schauen Fuchsfilme an, um uns einzustimmen, und wir imitieren Fuchsgebell, bis wir heiser sind. Draußen im Wald fielen mir Spuren von Wühlmäusen auf, ein Lieblingsessen von Füchsen. Reineke selbst war nicht zu sehen.
Tage nach dem Gespräch mit Jon klappe ich nachts den Laptop zu, als ein leises Geräuschvon draußen hereindringt. Es ist kaum hörbar. Ich spüre es mehr, als dass ich es höre, und es fühlt sich wie ein kleiner Stromschlag an. Schnell den dunklen Mantel angezogen und vor die Tür, nur bis zur Hausecke. Es dauert keine zehn Sekunden, bis der Fuchs gelaufen kommt. Genau an mir vorbei in Richtung Komposthaufen. Er ist struppig und viel größer als ich dachte. Sein Blick ist wach – und verspielt.
Elke Loepthien (32) studierte »Regenerative Community Design«, ganzheitliche Umweltbildung und Wildnispädagogik. Im »Circlewise – Zentrum für Verbindungskultur« begleitet sie Menschen auf der Reise zurück zur eigenen Natur.